«Der Nährboden ist da»

  • 14. Dezember 2020
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Portrait von Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG
«Für mich bedeutet jüdisch sein sehr viel Geschichte, Tradition und Kultur», Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG. (Foto: ZVG)

Jonathan Kreutner ist Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes. Im Interview spricht er über jüdisches Leben in der Schweiz, Antisemitismus und seine Wünsche an junge Menschen.

Herr Kreutner, Sie sind Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). Was ist der SIG?

Der SIG ist der Dachverband der jüdischen Gemeinden in der Schweiz, eigentlich die Vertretung der Schweizer Juden. Uns gibt es schon seit 116 Jahren. Heute vertreten wir zusammen mit der Partnerorganisation, der Plattform der liberalen Juden, fast 90 Prozent der Schweizer Juden. Wir machen eigentlich alles, was dazu dient, auf der nationalen Ebene eine Stimme für die jüdische Bevölkerung zu sein und machen Projekte, die jüdische Kultur und Lebensweise vermitteln.

Wie sieht jüdisches Leben in der Schweiz aus?

In der Schweiz gibt es nicht das jüdische Leben. Es ist sehr vielfältig: Von areligiös über säkular (Anm.: nicht religiös), zu traditionell bis zu ganz streng religiös gibt es die ganze Palette. Es gibt aber einen grossen gemeinsamen Nenner: Das ist die jüdische Geschichte und die jüdische Tradition. Wie man die auslebt und wie viel Raum man ihr im Alltag gibt – das ist natürlich sehr individuell.

Was bedeutet es für Sie persönlich, jüdisch zu sein?

Für mich bedeutet jüdisch sein sehr viel Geschichte, Tradition und Kultur. Religion macht bei mir keinen zentralen Teil meines Alltags aus. Wenn, dann noch eher über meinen Beruf als Generalsekretär des SIG. Man lebt die Traditionen, man weiss, woher man kommt, man weiss, was einem wichtig ist – das ist für mich persönlich das Judentum.

Sie stehen selbst in einer öffentlichen und repräsentativen Position – gewissermassen stellvertretend für alle jüdischen Menschen in der Schweiz. Wie erleben Sie das persönlich?

Ich bin ja nicht als jüdische Person erkennbar. Meinen Nachnamen würde man jetzt auch nicht speziell als jüdischen Nachnamen erkennen. Aber durch meine Position weiss man natürlich, dass ich jüdisch bin. Ich kann es nicht verstecken. Überraschenderweise hatte ich nie das Gefühl, dass das etwas verändert hat. Klar – sobald es in einem Smalltalk um den Beruf geht, komme ich nicht darum herum, mich zu outen. Das stört mich aber auch nicht. Es gibt schon ein gewisses Umfeld, in dem ich mich nicht unbedingt in einen jüdischen Diskurs einklinke. Aber ich habe jetzt noch nie das Gefühl gehabt, dass mir das zum Nachteil gedient hätte oder schwierig gewesen wäre.

Was für ein Umfeld meinen Sie damit?

Es sind Umfelder, bei denen ich das Gefühl habe, dass Verständnis für jüdische Themen oder Religion nicht da ist. Ein Umfeld, das wenig Verständnis für Minderheiten-Themen hat. Und umgekehrt gibt es auch ein bestimmtes Milieu, bei dem ich das Gefühl habe, dass ich Israelpolitik diskutieren muss, wenn ich sage, dass ich jüdisch bin. Dabei hat das ja in erster Linie nichts mit jüdischen Personen zu tun. Das sind so die zwei Milieus. Es kann ein hochakademisches Milieu sein, wo das Thema Israel aufkommt, oder eines wo die Minderheiten-Themen nicht so beliebt sind.

Der Antisemitismusbericht aus dem letzten Jahr beinhaltet die Warnung: «Aus Worten werden Taten». Wird die Unsicherheit jüdischer Menschen in der Schweiz grösser?

Im Antisemitismusbericht und der Studie der ZHAW sieht man, dass physische Übergriffe in der Schweiz eher selten sind. Dass eher Angriffe im Internet virulent sind. Wir sagen: Aus Worten können Taten folgen. Denn: Wenn man sieht, was im Internet alles passiert – was da für ein Nährboden geschaffen wird, was da für ein Hass geboten wird – dann ist nicht auszuschliessen, dass eines Tages auch physische Attacken folgen können. Bei Fällen im Ausland sieht man, dass diese Täter sich aus Worten radikalisiert haben. Das muss nicht heissen, dass es diesen Sprung auch in der Schweiz gibt. Aber der Nährboden ist da.

Wirkt sich die Berichterstattung über Antisemitismus aus Deutschland oder Frankreich auch hier in der Schweiz aus?

So hart das klingt: Man kann weder Berlin, noch Paris, noch London mit der Schweiz vergleichen. Die Situation ist hier anders. Das hat nicht nur mit uns jüdischen Menschen zu tun, sondern mit der ganzen politischen Kultur, mit dem ganzen Diskurs, mit der Mentalität, mit der Art und Weise wie gewisse Migranten integriert sind. Das ist eine andere Ausgangslage.

«Die schlechte Nachricht in der Schweiz ist, dass wir einen virulenten Nährboden für solche Taten haben.»

Man hört von wenigen jüdischen Menschen, die auf der Strasse angepöbelt werden. Dass man hier und da mal einen Spruch zu hören bekommt, ja. Aber so Fälle wie man sie aus Berlin oder Frankreich hört, die sind bei uns sehr, sehr selten. Jüdische Menschen bewegen sich freier an vielen Orten. Die Situation ist bei uns anders gelagert. Aber ganz generell ist ja auch Gewalt im öffentlichen Raum in der Schweiz nicht so Thema wie in anderen Ländern.

Die schlechte Nachricht in der Schweiz ist, dass wir einen virulenten Nährboden für solche Taten haben. Dass es wächst und gärt und gedeiht, dass Fälle vorkommen, die nicht vorkommen sollten, dass sich gewisse Leute unsicher fühlen. Dass jüdische Menschen nicht um Leib und Leben fürchten müssen, ist keine gute Nachricht. Wenn es anders wäre, dann stünden wir wirklich kurz vor dem Abgrund.

Haben Sie persönlich auch schon Antisemitismus erlebt?

Ja, ich habe selber Antisemitismus erlebt. Interessanterweise nicht in meiner Funktion, sondern als Jugendlicher und als Kind. Und oftmals nicht von Personen auf der Strasse, sondern von Lehrpersonen. Also von Personen, von denen man eigentlich erwarten würde, dass sie ein Gefühl dafür haben.

Was ist konkret passiert?

Ein Fall passierte in der Primarschule. Eine Lehrerin, die etwas alter Schule gewesen ist, hat generell Sprüche gegenüber Andersdenkenden gemacht. Sie hat gesagt, Juden hätten eine gewisse Art ihre Schuhe zu binden, so wie Schwarze eine gewisse Art hätten zu rennen. Diese Vorurteile hat sie immer wieder vor der Klasse betont, und wenn man sie darauf angesprochen hat, dann hat sie das als Angriff auf ihre persönliche Autorität als Lehrerin gesehen. Sie meinte, dass es ihr Recht ist, solche Vorurteile zu verbreiten.

Das zweite Mal passierte in einer höheren Bildungsinstitution. Es war ein Lehrer, der vor der Klasse gesagt hat, es müsse jetzt mal wieder ein Hitler kommen, der Ordnung in der Schweiz macht. Es war so halb ironisch, sarkastisch gesagt, darum haben wir ihn darauf angesprochen. Er hat dann geantwortet, dass er das vollen Ernstes meine. Erst als er die Folgen bemerkte, hat er versucht sich hinter Ironie zu verstecken. Heutzutage hätten beide Fälle fristlose Entlassungen zur Folge.

«Ein Lehrer sagte vor der Klasse, es müsse jetzt mal wieder ein Hitler kommen, der Ordnung in der Schweiz macht.»

In meiner Funktion habe ich auch einmal erlebt, dass jemand gesagt hat, er könne nicht mit jüdischen Menschen umgehen, die müsste man alle umbringen. Als ich gesagt habe, dass ich selber Jude bin und ob man mich dann auch umbringen müsste, hat er nur genickt.

Das sind Extremfälle. Ich könnte noch Dutzende Fälle nennen, wo jemand unbedachte Sprüche gemacht hat. Sachen wie: «Du siehst jüdisch aus» oder «Ihr habt alle die und die Form euch zu verhalten.» Ich habe diese extremen Fälle genannt, um zu zeigen: Das gibt es auch.

Wie gehen Sie mit solchen Vorurteilen um? 

Wir sind alle nicht vor Vorurteilen gefeit und haben vielleicht auch selbst schon mal einen dummen Spruch gemacht oder Sachen unüberlegt gesagt. Das ist mir auch schon passiert. Und weil ich das weiss, werfe ich nicht alle in einen Topf, weil sie vielleicht nicht jedes Wort auf die Waagschale gelegt haben. Man gibt sich Mühe. Wenn man es merkt, dann ist es ok.

Wir haben darum auch ein Projekt gestartet, bei dem wir in die Schulen gehen und die Schüler ohne Tabus fragen dürfen und auf alles eine Antwort bekommen. Es ist wichtig, dass sie in dem Alter lernen, dass sie alles fragen dürfen, aber dass es nicht auf alles eine einfache Antwort gibt. Mit dem Projekt haben wir schon viel erreicht. Junge Leute merken so, dass sie alles fragen dürfen, aber nicht alles, was sie wissen, unbedingt richtig ist. Wir müssen dann aber auch stark genug sein, diese Fragen zu beantworten.

Schwierig wird es, wenn solche Sachen aus einem akademischen Umfeld kommen, wo man weiss, dass sie das wider besseren Wissens sagen. Ich habe nicht ein Problem mit Menschen, die es nicht wissen können oder einen anderen Hintergrund haben. Ich habe ein Problem mit Menschen, die das Gefühl haben, dass sie Experten sind und sich dann auf Diskussionen versteifen.

Was würden Sie sich von jungen nicht-jüdischen Schweizern wünschen?

Offenheit haben. Auch die Offenheit, dass nicht alles was man weiss, stimmt. Und dass man sich am besten ein Bild machen kann über andere Leute, die man sonst nicht kennt, indem man diese Leute trifft, mit diesen Menschen redet und sich dann eben nicht schämt, Fragen zu stellen. In einem Dialog lernt man sich am besten kennen. Ich wünsche mir, dass junge Menschen keine Hemmungen haben, dass sie keine Angst haben, in eine Ecke gedrückt zu werden.

Die junge Generation steht unter einer starken Informationsflut und hat vielleicht gerade deshalb Hemmungen, weil erwartet wird, dass man alles weiss. Und wenn man daneben landet, gibt es Vorwürfe. Meine Botschaft ist: Man darf sich nicht zu schade sein, oder Angst haben, aufeinander zuzugehen, Fehler zu machen, Fragen zu stellen. Das ist überhaupt nicht schlimm.

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