Wo ist die Grenze?

  • 14. Dezember 2020
  • 0
Geri Müller und Erik Petry vor einer Israelflagge
GSP-Präsident Geri Müller und Historiker Erik Petry über die Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel. (Fotos: www.parlament.ch und ZVG)

«Ein hoher Anteil von Kritik an Israel hat nichts mit der Auseinandersetzung mit dem Staat zu tun, sondern ist wirklich antisemitisch.»

Erik Petry, Historiker und stellvertretender Leiter des Zentrums für jüdische Studien an der Universität Basel

«Kritik an der Regierung Israels hat mit Juden oder anti-jüdisch sein nichts zu tun.»

Geri Müller, Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina

Was ist überhaupt Antisemitismus? Und was berechtigte Kritik an Israel? Wo liegt die Grenze und kann man überhaupt eine ziehen? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Historiker Erik Petry und GSP-Präsident Geri Müller im Extrem-Beitrag.

Ich treffe Geri Müller im virtuellen Raum. Ein Zug fährt vorbei. Er schliesst das Fenster. In seiner Funktion als Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina setzte er sich für einen Richtungswechsel innerhalb der Organisation ein und bewirkte eine Fokussierung darauf, dass die palästinensische Bevölkerung zu einer eigenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung kommen könne. In seiner politischen Karriere als Nationalrat der Grünen (2003-2015) beschäftigte er sich viel mit dem Nahostkonflikt und gehörte zu einem der schärfsten Kritiker Israels im Bundeshaus. Ich will von ihm wissen, wo er den Unterschied zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus sieht.

Antisemitismus sei ein unscharfer Begriff, sagt Müller, denn «Semiten» meine grundsätzlich die ganze Bevölkerung in dem nahöstlichen Gebiet. Dort gebe es schon ein Problem, weil das nicht präzise sei. «Anti-jüdisch ist es für mich dann, wenn man einen Vorbehalt gegenüber Menschen jüdischen Glaubens hat. Wenn man das Gefühl hat, diese Menschen seien anders und schlechter und man daher das Recht habe, diese zu unterdrücken.» Aber Kritik an der Regierung Israels habe mit Juden nichts zu tun. «Ich distanziere mich in aller Form von all den Einzelnen, die sagen, sie haben etwas gegen Juden und darum auch etwas gegen Israel.»

Geri Müller zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen Zug.

Mehrere Stellen haben in den letzten Jahren den Versuch unternommen, genau diese Grenze zu definieren. Eine davon ist die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Ihre Definition soll helfen, Antisemitismus zu erkennen.

Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA
«Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.»
Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen: Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.

Zur ganzen Definition

Pro-palästinensische Organisationen wie auch die GSP lehnen diese Definition ab. Das habe zwei Gründe, sagt Müller. Der erste Grund sei, dass sie zu schwammig sei. «Ausserdem geht laut den angefügten Beispielen als Ganzes die Kritik am israelischen Staat in keiner Form mehr», sagt Müller.

Erik Petry ist stellvertretender Leiter des Zentrums für jüdische Studien. Der Professor für neuere allgemeine und jüdische Geschichte setzt sich seit über 20 Jahren mit dem Thema Zionismus, Antisemitismus und der Geschichte Israels auseinander. Auch wir treffen uns virtuell. Hinter ihm stapeln sich Bücher und Papiere in Regalen an der Wand. Er sitzt in Basel. In der Stadt, in der Theodor Herzl vor über 120 Jahren den ersten Zionistenkongress ausrief und damit die jüngere Geschichte Israels begründete.

«Ich weiss nicht, ob es einen anderen Staat gibt, der so viel kritisiert wird wie Israel.» Man könne den Staat Israel so viel kritisieren wie man wolle, sagt Petry. «Ich sehe nicht, dass die IHRA Definition das verhindert». Er sei froh, dass es so eine Definition gibt, aber man müsse immer genau hinschauen und sich qualitativ mit den Aussagen und dem Thema auseinandersetzen.

«Ich weiss nicht, ob es einen anderen Staat gibt, der so viel kritisiert wird wie Israel.»

Erik Petry

Die Grenze zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus sei schwierig zu ziehen. «Das fängt schon beim Begriff ‹Israelkritik› an.» Ein Begriff, der mittlerweile selbst schon als antisemitisch bezeichnet werde. Es gebe schliesslich auch keine Schweizkritik. Viele kritisieren den Bundesrat und seine Entscheidungen, aber der Begriff der Israelkritik enthalte eben mehr.

«Wenn man sich die israelische Medienlandschaft anschaut, dann ist wahrscheinlich keine andere Medienlandschaft so scharf gegenüber der eigenen Regierung. Dort wird alles auf den Prüfstand gestellt», sagt Petry. Was diese Kritik allerdings nicht tue, sind die berühmten 3 Ds:

  • Delegitimierung des Staates, also dem Staat Israel die Existenzberechtigung absprechen.
  • Dämonisierung Israels, also zum Beispiel die Darstellung Israel als angeblichen Verschwörungsstaat, der die ganze Welt beherrscht. Hier würden sehr oft auch «jüdisch» und «israelisch» miteinander vermischt.
  • Das dritte D ist der sogenannte ‹Double Standard›, also dass man mit zwei unterschiedlichen Massen misst. «Wenn jemand die Schweiz angreifen würde, wäre völlig klar, dass man sich verteidigt. Aber wenn Israel das Verteidigungsrecht abgesprochen wird, haben wir hier einen ‹Double Standard›», erklärt Petry.

Und wie sieht es in der Schweiz aus?

Der Antisemitismusbericht 2019 verortet über 30 Prozent aller antisemitischen Fälle im letzten Jahr in der Kategorie «israelbezogener Antisemitismus». «Ja, das gibt es immer noch. Aber reale Ausdrücke von Antisemitismus sind sehr selten. Im Bericht zeigt sich dies vor allem im Geschehen im Internet», sagt Geri Müller. Das sei natürlich schwierig national zu bewerten. Das Internet sei nun mal einfach ein Seuchentempel. «Ich würde das nicht überbewerten, aber ich finde es gefährlich. Ich finde es als ganze Bewegung gefährlich. Wenn man selbst Opfer von solchen Attacken wird, dann bemerkt man das.»

«Die Kombination aus Israel – der jüdische Staat – in Verbindung mit Jüdinnen und Juden, löst eine enorme Reaktion aus», sagt Erik Petry. Es werde immer wieder die Verbindung gezogen, dass Israel das Gleiche wie jüdisch sei. Dabei sind 20 Prozent der israelischen Staatsbürger muslimisch. Auf der einen Seite gebe es das alte Bild der jüdischen Weltverschwörung. «Auf der anderen Seite ist da auch noch ein Staat, gegen den man vorgehen muss: Das ist toxisch.» Es werde kein Unterschied gemacht, sondern es geschehe eine Kollektivzuschreibung auf alle Jüdinnen und Juden für Israel.

«Das Internet ist ein Seuchentempel.»

Geri Müller

Geri Müller sieht das Problem mit der Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel auch von anderer Stelle befördert. Laut Müller, der Israel selbst immer wieder kritisiert, habe die israelische Regierung 2005 eine teure Kampagne gestartet, mit dem Ziel, Kritik an Israel nicht mehr zuzulassen. Jede Kritik sei sofort antisemitisch. «Ich finde es gefährlich, wenn die israelische Regierung behauptet: Wer uns kritisiert, ist antisemitisch – ist gegen Juden. Diese Antisemitismus-Keule geht ins Auge, weil die israelische Regierung ihr Verhalten als jüdisch bezeichnet und so die Kritiker unglaubwürdig machen möchte», sagt Geri Müller.

«Israel ist in den letzten Jahren sehr aktiv gewesen, die eigene Position im Nahostkonflikt zu vertreten. Das war früher nicht so», sagt Erik Petry. Das Land sei sehr bedacht darauf, klar zu machen, was Antisemitismus und was Kritik an Israel ist. Er sehe aber nicht, dass Israel Kritik unterbinden würde. «Das wäre kontraproduktiv und würde auch gar nicht funktionieren.» Dafür seien die israelischen Medien selbst viel zu kritisch.

Man müsse aufpassen, dass man in Israel keinen monolithischen Block, sondern eine funktionierende Demokratie sehe. Was er aber sehe, ist, dass ein hoher Anteil von Kritik an Israel nichts mit der Auseinandersetzung mit dem Staat zu tun hat, sondern wirklich antisemitisch ist.

Ist BDS antisemitisch?

Eine der bekanntesten pro-palästinensischen Bewegungen ist BDS. Die drei Buchstaben stehen für Boycott, Disinvest und Sanctions. BDS fordert, dies so lange zu praktizieren, bis Israel «internationalem Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachkommt.»

Die Bewegung ist umstritten, weil führende Vertreter das Existenzrecht Israels nicht anerkennen und Boykott innerhalb der jüdischen Geschichte eine sehr belastete Vergangenheit hat. Der Deutsche Bundestag bewertete die Kampagne 2019 als antisemitisch, BDS wehrt sich jedoch gegen den Beschluss. Geri Müller ist öffentlicher Unterstützer von BDS und auch die GSP ist eng mit der Bewegung verknüpft.

«BDS ist nicht antisemitisch. BDS ist ein Grundrecht der Zivilgesellschaft. BDS schreibt ausdrücklich: BDS, bis die israelische Regierung die allgemeinen Menschenrechte und die Völkerrechte umsetzt.» Das sei analog zu der Situation in Südafrika zur Zeit der Apartheid. Es sei eine Methode gewesen, um das Land demokratisch zu machen. Damals sei auch niemand auf die Idee gekommen, den Südafrika-Boykott als «antichristlich» zu bezeichnen.

Im Zuge der Diskussionen um die israelische Politik wird Israel immer wieder als «Apartheid-Staat» bezeichnet. Laut Petry könne man die Situation im Apartheid-Südafrika jedoch nicht mit Israel vergleichen. An der Universität Basel gebe es ein Zentrum für Afrika-Studien, das genau diese Parallelen untersucht habe. «Aus dem wissenschaftlichen Diskurs heraus kann man das nicht miteinander vergleichen», sagt Petry. Der Vergleich werde sowohl der Situation in Südafrika als auch in Israel nicht gerecht.

«Innerhalb der jüdischen Geschichte mit Boykott zu kommen, ist hochsensibel»

Erik Petry

Erik Petry hält BDS für eine schwierige Organisation, weil die Ziele, die sie verbreiten, sehr kontraproduktiv seien. Er würde sie aber nicht pauschal verurteilen, sondern die einzelnen Aussagen und Ziele genau anschauen. «Kultur- oder Wissenschaftsboykott ist für mich aber ein No-Go.» Damit verliere man die Gesprächspartner.

Boykott sei ausserdem sowieso schon eine schwierige Geschichte, sagt Petry: «und innerhalb der jüdischen Geschichte mit Boykott zu kommen, ist hochsensibel».

Geri Müller kann nicht nachvollziehen, dass dieser Boykott an den Judenboykott der Nationalsozialisten erinnere. Damals habe sich der Boykott gegen die jüdischen Menschen gerichtet. Das sei bei BDS nicht der Fall.

Geri Müller wurde vor ein paar Jahren selbst Antisemitismus vorgeworfen. In einem Interview mit einer Online-Plattform sagte er unter anderem: «Was Europa den Juden angetan hat, ist eine furchtbare Sache, aber das berechtigt nicht, dass man an einem anderen Ort in der Welt das gleiche mit einer anderen Bevölkerung macht.» Damit spielte er auf den Umgang der Israelis mit den Palästinensern an. Damals berichteten sogar israelische Medien über den damaligen Nationalrat.

«Es geht nicht um Vergleiche, die hinken immer.»

Geri Müller

«Ich habe mich damals für die Passage entschuldigt. Ich habe gesagt: Das ist ein Fehler gewesen, das so zu vergleichen.» Ich frage ihn, ob er Nazivergleiche in Bezug auf Israel grundsätzlich verurteile. «Ja, alle Vergleiche hinken», sagt Müller. Auch Andersdenkende würden vermehrt als Nazi bezeichnet, das sei für ihn «ein hilfloser Versuch, jemanden zu dämonisieren.»

Die Lösung ist nicht einfach

Müller zündet sich die zweite Zigarette an. In dem dunklen Zimmer steigt Rauch auf, während er die Geschichte Israels aufrollt.

«Es ist jetzt höchste Zeit, Palästina auch anzuerkennen und die Besatzung zu beenden. Dann könnte man sich endlich zusammen an einen Tisch setzen, um die bereits heute verwobene ‹Gemeinschaft› weiter zu entwickeln.» Der militärisch Stärkere solle die Hand reichen, so wie es Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz der Fall gewesen sei.

Das Seltsame am Nahostkonflikt sei, dass jeder Bescheid wisse und dass jeder auch eine Lösung habe, sagt Erik Petry. Das zeige die Schwierigkeit des Konflikts, aber auch eine blasierte Arroganz. Man könne schliesslich auch umgekehrt sagen: Wenn die Palästinenser aufhören würden, Raketen zu schiessen, dann würde es endlich Frieden geben. «So funktioniert ein Friedenskonsens aber nicht», sagt Petry.

Autor*in