Antisemitismus und Israel

  • 14. Dezember 2020
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Ein goldener Davidsstern hängt an einem Ast.
Auch in der Schweiz gibt es immer wieder antisemitische Vorfälle. (Foto: Unsplash)

30 Prozent aller antisemitischen Vorfälle in der Schweiz werden in die Kategorie «israelbezogen» eingeordnet. Doch was hat Israel mit Antisemitismus zu tun? Und wieso spielt die politische Linke dabei eine Rolle?

Vor einem Betlokal in Zürich schreit ein Mann die anwesenden Juden an und ruft unter anderem: «Ich bringe alle Juden um!».

In Richtung mehrerer jüdischer Touristen aus England wurde an der Talstation einer Bergbahn gesagt: «Ich hasse diese Leute wie die Pest», «Schade hat Hitler nicht länger gelebt» und «Die vermehren sich und vermehren sich und füllen die ganze Welt».

Im Januar wurden mehrere Autos, von denen anzunehmen war, dass sie jüdische Besitzer haben, mit Davidsternen und Hakenkreuzen beschmiert.

Quelle: Antisemitismusbericht 2019

Alle diese Fälle ereigneten sich im Jahr 2019 in Zürich, im Skigebiet, an der Bushaltestelle. Aktuelle Zahlen zeigen, dass es auch in der Schweiz immer wieder antisemitische Vorfälle gibt: Aussagen, Beschimpfungen, selten auch tätliche Übergriffe.

Für viele davon gibt es jedoch keine offiziellen Zahlen. Das liegt vor allem daran, dass viele Ereignisse nicht gemeldet oder strafrechtlich verfolgt werden. Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) veröffentlichen aus diesem Grund jedes Jahr einen Antisemitismusbericht. Dort registrieren sie offizielle Straftaten, betreiben eine eigene Meldestelle und analysieren Kommentare bei Schweizer Medienplattformen und auf Social Media.

«Wir können so ein Grundbild abschätzen», sagt Cyril Lilienfeld, der beim SIG für das Monitoring und die Erstellung des Antisemitismusberichts zuständig ist. Trotz der grossen Dunkelziffer könne man anhand des Berichts ein grobes Bild abschätzen, gerade was Online-Fälle oder sogenannte Trigger betrifft. Trigger sind Ereignisse, die eine massiv höhere Anzahl an antisemitischen Vorfällen zur Folge haben – das können zum Beispiel Medienberichte oder internationale Ereignisse im Nahen Osten sein.

Kritik oder Antisemitismus?

Im Jahr 2019 wurde ein Drittel aller Fälle in die Kategorie des «israelbezogenen Antisemitismus» eingeordnet. Die Macher des Antisemitismusberichts ziehen klare Grenzen, um legitime Kritik am Staat Israel und Antisemitismus unterscheiden zu können. Sie halten sich bei der Erstellung und Beurteilung der Vorfälle an die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).

Cyril Lilienfeld betont, dass diese Definition nicht bedeute, dass Kritik am Staat oder an der Politik Israels per se antisemitisch ist. Diese sei auch unter der IHRA Definition kein Problem. «Aber wenn doppelte Standards angewandt werden, oder Israelis und Juden gleichgesetzt werden, dann ist das Antisemitismus». Auch wenn klassisch antisemitische Symbole auf Israelis angewendet werden, stuft man diese Vorfälle als antisemitisch ein. Das kann zum Beispiel eine Aussage sein wie: «Alle Israelis sind macht- und geldgeil». Das antisemitische Vorurteil des «Geldjuden» wird so auf alle israelischen Staatsbürger angewandt.

Und trotzdem: Es sei schwierig mit grosser Eindeutigkeit zu entscheiden, ab welchem Punkt eine legitime Kritik an der israelischen Regierung in den Bereich des Antisemitismus umschwenkt. Aus diesem Grund bezeichnen die Verfasser des Berichts Fälle, die in diesen unklaren Bereich fallen, als «grenzwertige Fälle». Gerade in der Kategorie «israelbezogener Antisemitismus» sind viele davon zu finden.

Menschenrechte als Vorwand

Israelbezogener Antisemitismus sei so schwierig und komplex, weil vieles unter dem Deckmantel von Politik geschehe, sagt Dina Wyler. Sie ist seit August Geschäftsführerin der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). Die Organisation kämpft seit 1990 schweizweit gegen Antisemitismus und erstellt den Antisemitismusbericht jedes Jahr zusammen mit dem SIG.

Antisemitismus habe sich über die Jahre immer wieder gewandelt und sich an die vorherrschenden Werte der Zeit angepasst. Zu Nazizeiten hätte die Naturwissenschaft einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft genossen, also habe man Antisemitismus auf Pseudo-Wissenschaft basiert und die Juden anhand abstruser Experimente wie Köpfe vermessen als minderwertige Rasse bezeichnet. Heutzutage nehme man sich angebliche Menschenrechtsverletzungen Israels gegenüber der palästinensischen Bevölkerung zum Vorwand für Antisemitismus. «Wer kann da schon dagegen sein?», sagt Wyler. Aber genau das mache es auch so schwierig die neueste Form von Antisemitismus zu identifizieren.

Der Staat Israel und der Konflikt mit den Palästinensern wird auch in der Schweiz oft kritisiert. «Die Menschen haben so eine dezidierte Meinung zu Israel – zu welchem anderen Staat hat man so eine dezidierte Meinung?» Schon alleine die Tatsache, dass es ein Wort wie «Israelkritik» gebe, spiegle das wieder: Es gebe schliesslich auch keine «Schweizkritik» oder «USA-Kritik». Es gehe also nicht um die Politik einer bestimmten Regierung, sondern um den Staat und die Nation als Ganzes.

Dina Wyler betont, dass nicht jede Kritik an Israel antisemitisch sei. Für sie ist die Grenze dann erreicht, wenn jemand dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand Israel nicht als eigenen Staat anerkennt. «Damit spricht man Juden das Recht auf Selbstbestimmung ab und das ist für mich Antisemitismus. Jüdische Menschen haben als Volksgruppe das Recht selbstbestimmt zu leben.»

Links und antisemitisch

Laut dem Bericht sind «die Darstellungsformen des israelbezogenen Antisemitismus sehr unterschiedlich und facettenreich.» Die Verfasser solcher antisemitischen Kommentare und Aussagen würden aus allen Milieus stammen, doch das muslimische und das linksradikale Umfeld überwiegen.

Links und antisemitisch? Normalerweise wird Antisemitismus oft mit Rechtsradikalismus in Verbindung gebracht, doch auch bei den Linken gibt es diese Strömungen. Oft hat das mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zu tun. Die ehemalige SP-Stadt- und Grossrätin Lea Kusano spricht Antisemitismus in den eigenen Reihen immer wieder an. Für sie ist der Zusammenhang mit Israel keine Überraschung.

«Das Problem ist, dass es bei den Linken eine Nähe zu pro-palästinensischen Kreisen gibt, die sehr hart an der Grenze zum Antisemitismus sind – und auch dazu überschwappen.» Das Hadern der Linken, sich von diesen Personen und Organisationen abzugrenzen, zeige den inneren Widerspruch, sagt Kusano. «Ich – das ist meine persönliche politische Meinung – finde diese Art von Antisemitismus gefährlich, weil er anderen Antisemitismus irgendwo legitimiert.» Er mache eine antisemitische Grundhaltung politisch breit akzeptiert: «Und das finde ich ganz, ganz gefährlich.»

Alarmstimmung

Wie weit Antisemitismus in der Schweiz verbreitet ist, zeigt auch eine Studie, die die GRA zusammen mit der ZHAW im Sommer veröffentlichte. Sie befragten dafür Jüdinnen und Juden in der Schweiz dazu, wie sie die Situation erleben. «Dort hat wirklich die Hälfte der jüdischen Menschen gesagt, dass sie in den letzten fünf Jahren Antisemitismus erlebt haben», sagt Dina Wyler von der GRA. Fast drei Viertel gehen davon aus, dass Antisemitismus in der Zukunft ein grösseres Problem sein wird.

Alltagsantisemitismus

«Physische Gewalt mit antisemitischer Motivation ist in der Schweiz zum Glück kein grosses Thema. Das kann sich aber auch sehr schnell ändern.» Spürbar sei eher eine Form von Alltagsantisemitismus: «Es sind all die kleinen, subtilen Einzelfälle, die sich summieren und dann doch keine Einzelfälle mehr sind.» Diese Fälle würde man in den Medien nicht sehen und auch auf dem Monitoring nicht auftauchen, da viele Betroffene die Vorfälle nie melden.

Es seien Kommentare wie: «Du siehst ja jüdisch aus». Es sei die ständige Unterscheidung zwischen «wir» und «ihr». Das auf Unwissen basierende Vorurteil, dass alle jüdischen Schweizer Israelis seien. Dass sie einfach nicht dazugehören würden und dass immer hinterfragt werde, zu wem man loyal sei – zu Israel oder zur Schweiz? «Jüdische Schweizer werden oft nicht als vollwertige Schweizer angesehen», sagt Dina Wyler. «Man spürt immer das Wertende, das Trennende».

Tatort Internet

Antisemitische Aussagen finden sich vor allem im Netz immer wieder. Allen voran bei Twitter und Facebook, aber auch in den Kommentarspalten Schweizer Medien.

Die Geschäftsführerin der GRA findet die starke Ausprägung des Online-Antisemitismus bedenklich. «Es gibt – im Gegensatz zu Offline – nur sehr wenig Ansätze, wie man Antisemitismus online bekämpfen kann.» Das sei gefährlich, denn gerade junge Menschen seien mehr im Internet unterwegs und informieren sich oft nur noch über soziale Medien.

«Manchmal habe ich das Gefühl wir schreien an gegen ‹das Internet› und das Internet schreit mit 100 Stimmen zurück», sagt Dina Wyler nachdenklich. Sie glaube an den persönlichen Austausch und Aufklärungsarbeit – anders könne sie ihren Job gar nicht ausüben. Aber es sei eine Arbeit, die nicht morgen fertig werde. «Ich witzele immer und sage: Ich muss mir keine Sorgen machen, dass ich meinen Job irgendwann nicht mehr habe. So schnell haben wir den Antisemitismus nicht bekämpft.»

Hochkonjunktur für Verschwörungstheorien

Wie die Entwicklung im Jahr 2020 aussieht, kann auch Cyril Lilienfeld vom SIG noch nicht sagen. Sie hätten im Zusammenhang mit Corona jedoch eine leichte Abnahme von israelbezogenem Antisemitismus und einen leichten Anstieg an antisemitischen Verschwörungstheorien bemerkt. Auch die GRA ist im Moment mit Holocaust-Relativierungen im Zusammenhang mit Corona beschäftigt. «Verschwörungstheorien haben definitiv Hochkonjunktur, und in sehr vielen schwingen immer antisemitische Vorurteile mit», sagt Dina Wyler. «Wenn das Gedankengut in der Gesellschaft bereits verbreitet ist, dann haben solche Theorien auch den Nährboden zu wachsen.» Wenn die Basis schon verseucht sei, dann sei es nachher einfach, dass während Krisenzeiten geschürt wird.

Der Antisemitismusbericht schliesst mit warnenden Worten. Auch wenn in der Schweiz noch nicht die gleichen gewalttätigen Vorfälle wie in Deutschland oder Frankreich zu beobachten sind, ist die Alarmstimmung hoch: «Auf Worte können Taten folgen».

Weiterführende Links

Antisemitismusbericht 2019

Studie «Erfahrungen und Wahrnehmungen von Antisemitismus unter Jüdinnen und Juden in der Schweiz»

Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus

Schweizerisch Israelitischer Gemeindebund

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