Willkommen in den 1950ern

  • 30. November 2020
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Eine Person sitzt auf einer hölzerner Fläche, man sieht sie nur von oben
Das gesellschaftliche Idealbild sollte sich in der Zeit nach vorne, nicht nach hinten bewegen. (Foto: Corina Mühle)

Auch wenn wir unsere Gesellschaft als modern bezeichnen, halten wir an veralteten Idealbildern fest. Soll doch jede*r selbst entscheiden wie er/sie leben möchte.

Gerade mal knapp aus dem Teenageralter raus und ins erwachsene Leben rein wurde ich öfters mit der Frage konfrontiert, wann und wie viele Kinder ich dann mal wolle. Woher sollte ich das denn wissen? Ich war ja selbst noch fast ein Kind. 

Arbeitgebern ist es ausdrücklich verboten, eine Frau beim Vorstellungsgespräch nach ihrem Babywunsch zu fragen. Ich habe gelernt, dass ich auf diese – und auch weitere  – persönliche Fragen einem künftigen Arbeitgeber keine Antwort geben muss. Weshalb Männer das nicht auch lernen müssen? Ach ja stimmt: weil die fürsorgliche Frau nach der Geburt des Kindes zu Hause bleibt und der starke Mann weiter der Ernährer der Familie ist. Willkommen in den 1950ern. 

Wenn es um die Sexualität oder eine Geschlechtsveränderung geht, wird diese Thematik sehr viel intimer. Ich frage mich: Darf ein Arbeitgeber nach dem Geschlecht seiner Angestellten fragen?

The American Dream

Zurück zum gesellschaftlichen Idealbild einer Familie. Heiraten, Kinder kriegen und in ein idyllisches Haus ziehen – oder auch: The American Dream. Immer wieder erschrecke ich, wie konservativ vermehrt auch junge Leute sind – kein Sex vor der Ehe, Homophobie und «Reinheit». Wie ich feststellen musste, haben diese «Werte» meistens mit Religion zu tun. «Gott hat die Frau und den Mann erschaffen und das ist natürlich so», sagt ein jungen Paar in einer Reportage vom Y-Kollektiv. Sprich: Gleichgeschlechtliche Paare – und damit theoretisch ebenfalls alle Personen in der LGBTQ+ -Community – sind unnatürlich. 

Schwarz-weiss Skizze einer Familie. Der Junge läuft zuvorderst, hält den Vater an der Hand. Den Blick nach vorne zu seinem Jungen gerichtet, hält er seine Frau, die hinter im läuft. Diese schaut zurück zu ihrer Tochter, die zuhinterst läuft und die Hand ihrer Mutter haltet.
Vater, Mutter, Sohn und Tochter: Eine «perfekte» Familie. (Illustration: Corina Mühle)

Ursprünglich wurde für wirtschaftliche Vorteile ge- und verheiratet. Kinder dienten als Unterstützung auf dem Bauernhof oder im Familiengeschäft. Im Industrialisierungszeitalter kam der Gedanke der lebenslangen romantischer Ehe auf. Seither halten wir daran fest. Einige Kulturen und Religionen mehr als andere. Ist es der verzweifelte Versuch an etwas Vertrautem festzuhalten in einer Welt, die ständig im Wandel ist? Oder ist es einfach nur erzkonservativ?

Ich muss zugeben, auch ich bin in so einem typischen Haushalt aufgewachsen. Mein Vater verdiente den Lebensunterhalt für die ganze Familie und meine Mutter blieb mit meinem Bruder und mir zu Hause. Wir hatten Katzen, bauten unser eigenes Haus und adoptierten einen Hund. Ich bin so aufgewachsen und das ist okay so. Meine Eltern haben diese Familiendynamik nie hinterfragt. Sie haben so gelebt, wie sie es von ihren Eltern mit auf den Weg bekommen haben. Und wenn jemand so ein Leben führen möchte, soll er/sie das auch machen. Es spricht nichts dagegen.

«Lasst meine Katze und mich in Frieden leben.»

Zum Problem wird es dann, wenn versucht wird, die eigenen konservativen Werte anderen Personen aufzudrücken. Es soll doch jeder so leben wie er/sie möchte. Sei das sich vor seinem/ihrem Gott das «Ja-Wort» zu geben, allein mit 3 Hunden und 20 Katzen zu wohnen oder mit seinen Freunden eine eigene Familie aufbauen und die adoptierten Kinder gemeinsam als Freunde aufzuziehen. 

Wenn es zu gesunden Beziehungen, Familienkonstellationen und Lebensstilen kommt, gibt es kein «Richtig» oder «Falsch».

Diversität wo?

Während aber Homosexuelle und Transmenschen immer öfter und lauter ihre Stimme erheben, gibt es trotzdem noch Menschen, die fast gänzlich unerhört bleiben. Sie sind die Minderheit, der Minderheit: die Aromantiker*innen. Wenn es mich schon nervt, immer wieder mit der Frage des Kinderkriegens und Heiratens konfrontiert zu werden, wie mühsam ist es dann für Personen, die  sich als aromantisch identifizieren? «The American Dream» wird uns tagtäglich, nicht nur in unserer Umgebung, sondern auch von den Medien vorgehalten. 

Werbung, Zeitschriften, Filme, Serien… Irre ich mich oder hat Netflix schon einmal ein Original produziert, in dem keine einzige Liebesbeziehung vorkommt? Sie verdienen ein Vermögen damit, uns «The American Dream» zu verkaufen. Versteht mich nicht falsch, auch ich liebe Liebesschnulzen und keiner kann sie so gut wie Nicholas Sparks. Doch nicht jede Geschichte braucht eine Liebesbeziehung um interessant zu sein und Zuschauer in ihren Bann zu ziehen.

«Liebesschnulzen? Yes, please!»

Netflix macht zwar Fortschritte in Sache Diversität, so ganz zufriedenstellend ist es allerdings immer noch nicht. Während nun öfters homosexuelle Personen (Hollywood, Queer Eye, Sex Education) oder Transmenschen (Sense8, Orange is the new black) auch Hauptrollen spielen, ist der Rest der LGBTQ+ -Community so gut wie nicht vertreten. Von aromantischen Personen ganz zu schweigen.

Eine Frage der Religion?

Nach unzähligen Dokumentationen, Artikeln und Interviews komme ich immer wieder auf ein Thema zurück: Religion. Wie ich die Situation drehe und wende, schlussendlich haben Beziehungen immer mit religiösen Werten zu tun. Die Bibel schreibt den Menschen vor, wie sie zu leben haben. Das älteste Schriftstück auf der Welt – für dessen Verbreitung hat Gutenberg ja schliesslich den Buchdruck erfunden – sagt mir im Jahr 2020 immer noch, wie ich zu Leben habe. Für mich ein Paradox. 

Traditionelle Kirchen verlieren zwar an Mitgliedern, das heisst aber nicht, dass junge Menschen nicht mehr religiös sind. Sie nutzen YouTube, um über ihren Glauben zu sprechen oder treten Freikirchen wie dem ICF bei. Eine Kirche, die Millennials und Gen Z erfolgreich anspricht. Homophobie und konservative Werte verborgen hinter Konzerten und einem modernen Auftritt. Sowas macht mich hässig.

Mit dem Wandel der Gesellschaft muss sich doch auch die Art und Weise wie wir Beziehungen und unsere Sexualität wahrnehmen und ausleben ändern. Sollte man zumindest glauben. Und trotzdem klammern wir uns weiter an diesem «Idealbild» fest. Als wäre das Heiraten und Kinder kriegen das allerbeste, was einem passieren könnte. Das ultimative «Goal»!

Unterdessen weiss ich immer noch nicht, ob ich Kinder haben möchte oder nicht. Ich werde mich für meine Entscheidung, egal wie diese auch ausfallen mag, jedoch bei niemandem rechtfertigen. 

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