Ich bin Aussen. Ich bin Innen.

  • 19. Oktober 2020
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Frau hat Kopf am Boden und den Körper auf einem Stuhl. Die Füsse zeigen nach oben.
Der Lockdown als erzwungene Pause: Ängste und Schmerzen kommen hoch. (Foto: Ann-Sophie Fiechter)

Der Zug von Bern nach Basel war voll. Die ältere Frau mit ihrem Einkaufsroller setzte sich zu uns. Ein anderer Student und ich unterhielten uns weiter über einen Text für meine Recherche. Die Frau unterbrach uns und fragte, was wir studierten. «Etwas Ähnliches wie Journalismus», antwortete ich.

An den weiteren Gesprächsverlauf kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Aber eine Aussage ist geblieben. Sie sagte, dass sich unsere Welt ganz oft nur im Aussen abspielt. Eigentum. Aussehen. Prestige. Und dass dabei das Innere vergessen geht. Wir sollten Anfangen, uns um unser Inneres zu kümmern. Den Innen, da stinkt’s. Von Innen sowie von Aussen sind wir alle einem zunehmenden Druck ausgesetzt – physisch, psychisch, mental, emotional, spirituell.

Während der erzwungenen Pause des Lockdowns habe ich mit jungen Menschen über die schweren Seiten des Lebens gesprochen. Sie haben mir ihre persönlichen Ängste und Schmerzen erzählt.

Ich habe Weltschmerz. Ich fühle den Leistungsdruck während meiner Ausbildung und im Job. Ich habe Probleme mit meinem Status. Ich habe Probleme mit Geld. Ich passe nicht in die Schönheitsideale. Ich verliere meine Heimat und fühle mich entwurzelt. Ich erlebe Freiheitsverlust. Ich verurteile und werde verurteilt. Ich sehe, dass meine Eltern Fehler machen und merke, dass sie nicht alles wissen. Ich will den Erwartungen anderer und/oder meiner eigenen gerecht werden.

Ich kämpfe mit meiner eigenen Faulheit und/oder meinem Perfektionismus. Ich bin süchtig. Ich habe Verlustangst. Ich habe Angst etwas zu verpassen. Ich bin einsam. Ich habe und lebe schwierige Beziehungen. Ich habe keine Zeit. Ich kämpfe mit dem eigenen, sowie dem Egoismus der anderen. Ich fühle mich machtlos und erlebe Kontrollverlust. Ich habe Angst vor der Zukunft.

Vieles davon kenne ich auch. Aber, sind die Ängste andere als in früheren Zeiten?

Der Unterschied

Spontan würde ich mit «Nein» Antworten. Auch die Generation unserer Eltern musste irgendwann erwachsen werden. Irgendwie klarkommen. Und doch gibt es einen ganz grundsätzlichen Unterschied. Und der ist im Aussen. Das Internet als Raum der ununterbrochenen medialen Verfügbarkeit. Und daraus geboren Multimedia. Social Media. Masseninformation. Cyber-Krieg und Cyber-Liebe.

Schatten von Geländer fällt auf nackten Rücken einer Frau.
Auf unserem Rücken lastet die Verantwortung für die Cyber-Welt. (Foto: Ann-Sophie Fiechter)

Geliebt und gehasst und vor allem allgegenwärtig. Grundsätzlich sollte das Internet uns dienen und unser Leben vereinfachen. Doch mit dem Aufkommen des Internets, der Ausbreitung von Multimedia und Social Media wurde unser Leben sehr viel komplexer als vorher. Es ist eine neue Welt, neben der realen Welt entstanden und diese Welt bekommt immer mehr Gewicht. Das Gewicht, das wir schlussendlich tragen in unserer Verantwortung und in unserem Umgang. Und natürlich hat uns das Internet und das multimediale Angebot noch etwas anderes gegeben.

Ablenkung

Ablenkung von den Ereignissen in der realen Welt. Ablenkung vom Druck. Ablenkung von der Stille. Ablenkung vom Jetzt. Ablenkung von uns und von dem was ist, was wir sind, was wir fühlen. Lorena Lucek hat für eine kurze Zeit jeglicher Art von Ablenkung entsagt und erfahren was dann passiert.

«10 Tage, 10 Stunden Mediation. Die Erfahrung hat mir viel gegeben. Vipassana ist die schönste und aber auch die absolut schwierigste Erfahrung in meinem ganzen Leben. Im Vipassana hast du nichts, ausser das Nötigste. Essen wird dir gegeben, Ablenkung gibt es nicht.»

«Manchmal war ich tagelang nur traurig»

Die 22-jährige Multimedia Studentin war vollkommen fasziniert, als sie auf ihrer halbjährigen Reise durch Asien zum ersten Mal von Vipassana erfuhr. Nicht das Gesagte, sondern die Begeisterung der anderen Schüler*innen überzeugte sie schlussendlich, am Kurs teilzunehmen.

«Manchmal war ich tagelang nur traurig. Die kleinen und grossen Traumata des Lebens kommen hoch. Meistens ist einem völlig bewusst, wo die Schwierigkeiten im eigenen Leben liegen. Aber genau das, diese Gefühle versucht man dann nicht zu kontrollieren. Sie werden zugelassen, alles wird gespürt. Was spüre ich im Moment? Der Körper wird gescannt. Gleichmütig wird wahrgenommen was da ist. Auf die Empfindungen und Gefühle, die wir alle haben, wird versucht, nicht zu reagieren. Nur zuschauen, nur beobachten», antwortete Lorena auf die Frage, was der Vipassana Kurs mit ihr gemacht habe.

Schatten einer Gestalt gegen die Wand. Die Hand ist offen.
Sich spüren heisst auch den eigenen Schattenseiten entgegenzutreten. (Foto: Ann-Sophie Fiechter)

Vipassana («Einsicht») ist eine der ältesten indischen Meditationstechniken. Die Kurse werden auf der ganzen Welt angeboten. Immer nach dem gleichen Ablauf. Immer kostenlos und auf Spendenbasis. Die meiste Zeit des Vipassanas wird schweigend in der Meditation verbracht. Nach Indien machte Lorena dieses Jahr einen weiteren Vipassana Kurs im Schweizer Jura. Ich habe mich gefragt, ob Lorena nun anders mit Lasten und Druck in ihrem Leben umgeht.

«Bevor ich mich mit der Meditation auseinandergesetzt habe, verschwendete ich keinen Gedanken daran, wie ich mit meinen Gedanken umgehe. Bei jedem Problem im Leben habe ich mich hineingesteigert und mich treiben lassen. Jetzt versuche ich einen Schritt zurück zu machen, versuche unangenehme Situationen objektiver anzusehen. Ich versuche mich damit zu befassen. Ich versuche meine Emotionen, mein Empfinden anzunehmen. Und frage mich gleichzeitig, welche Reize dahinterstecken und lassen die Gefühle nicht so explodieren.»

«Du kannst Feuer nicht mit Öl löschen»

Sich in Gedanken und Sorgen zu verlieren, kenne ich auch sehr gut. Vor allem, wenn gerade sowieso viel los ist, nehme ich alle Regungen in mir viel zu ernst. Dann passiert mir auch mal, dass ich mich subjektiv schlecht fühle und objektiv einfach Hunger habe. So schnell wie dieses Problem lässt sich aber nicht alles lösen. Manchmal vergeht ein Leiden, ein Schmerz, eine Angst nicht. Lorena hat auch darauf eine Antwort bekommen oder besser gesagt, erfahren.

«Du kannst Feuer nicht mit Öl löschen. In verschiedenen Zeitspannen hat alles ein Ende und alles einen Anfang. Es geht vorbei. Meditieren braucht viel Energie, keine Gedanken zu haben, das Gespür alles zu spüren, braucht so viel Energie, dass alles andere weggeht, auch der Schmerz. Alle Empfindungen, schöne und weniger schöne kommen in einem Fluss, die unterschiedlich wahrgenommen werden können. Sei es als Vibration, Druck, als Kitzeln oder Jucken. Manchmal wird einem heiss oder auch eiskalt. Es ist da und wird gespürt, bis wieder eine andere, neue Empfindung übernimmt.»

Wie im echten Leben, denke ich mir. Schmerz, ist er auch noch so unterschiedlich, ist Teil des Lebens. Corona ist ein Beispiel für Schmerz, der ausgelöst wird, wenn Gewohnheit verloren geht. Uns wurde bewusst, dass wir nicht alles kontrollieren können. Nicht im Innen, noch im Aussen.

Jetzt

Was wir aber beeinflussen können, ist das jetzt. Der Moment, in dem wir sind. Mit Philippe Schmidt, Psychologe und Suchttherapeut, habe ich über dieses bewusste Sein in der heutigen Zeit gesprochen. Er erzählte mir, dass es in allen Lebensformen zweierlei Lebensweisen gibt. Eine, bei der ich mir (meinem Inneren) bewusst begegne und eine, bei der ich nicht in Kontakt mit mir selbst und der Umwelt bin. Erklärt hat er es mit folgendem Beispiel.

«Wenn ich mit jemandem am Telefon bin oder sonst virtuell kommuniziere, ist die Realität, dass ich mit dieser Person spreche, aber ich habe sie nicht vor mir. Ich spüre sie nicht, nehme sie nicht so wahr, wie wenn sie mit mir in einem Raum wäre. Der virtuelle Kontakt involviert weniger Sinne als der direkte Kontakt. So ist man auf die verbleibenden Sinne angewiesen, was im Gegensatz zu direktem Kontakt weniger nahrhaft für den Menschen ist.

In einem anderen Beispiel fängt man während der Quarantäne wieder an Gitarre zu spielen oder zu zeichnen. Da habe ich Kontakt mit meinem Befinden, mit den Geräuschen, Geschmäcker, kurz gesagt mit meinem sinnlichen und seelischen Wahrnehmen. Ich verliere mich fast im Sein, im Kontakt, ich werde eins. Bewusstes Erleben mit all meinen Sinnen ist die Annäherung an mich selbst und das nährt mich nachhaltig. Virtuelles kann unser Leben eine Zeit lang ersetzten, aber nur oberflächlich. Der Mensch braucht das Echte, das Reale. Der vertraute Mensch, der uns in den Arm nimmt.»

Fuss auf Holzlatten. Ein Buch liegt aufgeschlagen daneben.
Einfach mal nichts tun ist gar nicht so einfach. (Foto: Ann-Sophie Fiechter)

Ich erzählte ihm, dass mich das ständige Aufploppen von Nachrichten wahnsinnig machte und ich deshalb jegliche Benachrichtigungen auf meinem Handy ausgeschalten habe. Viel verändert hat das nicht. Immer noch habe ich das Gefühl, ständig in irgendwelche Bildschirme zu starren. Wenn ich nicht aufpasse, bin ich ständig mit etwas beschäftigt und gestresst. Aber auch, wenn ich nichts tue, fühle ich mich nicht besser. Warum ist das so?

Multimedia Produktion oder einfach Multistress Produktion?

Philippe Schmidt sagte, dass der Medienkonsum noch nie so stark war wie heute und auch gesellschaftlich verlangt wird. Ich funktioniere nicht mehr ohne. Sachen tun, gibt mir einen Selbstwert. Ich muss erreichbar und in Kontakt mit anderen sein, denn mein Urinstinkt fürchtet sich vom drohenden sozialen Ausschluss. Dadurch sind wir ständig beschäftigt und müssen die Informationsflut filtern. Das wiederum führt ohne Pause zu einer Reizüberflutung, Stress und chronischem Stress.

«Sie wollen sofortige Befriedigung»

Nicht beschäftigt sein, kann deshalb Unruhe auslösen. Nicht beschäftigt sein, kann deshalb Unruhe auslösen. Nichts zu tun ist eine grosse Herausforderung. «Viele Menschen können diesen Verlangsamungsprozess nicht abwarten. Sie wollen sofortige Befriedigung», bestätigt Philippe Schmidt.

Schnelle und sofortige Entspannung heisst, ich trinke ein Glas Wein. Ich rauche einen Joint. Ich schaue eine Serie. Ich drehe die Musik in meinen Ohren auf laut oder treffe Freunde, die mich unterhalten. Laissez-Fair. Ich komme runter und dümple etwas in der Gegend herum.Wer kennt das nicht? Entspannen, und trotzdem nicht wirklich mit mir selbst im Einklang. Sondern weit weg von mir und meinem Innern. «Innen, da stinkt‘s», hat die ältere Frau gesagt. Gemeint hat sie wohl: Das wir auf unser Innenleben achten sollen. Wir sollten uns Zeit nehmen, um in uns hineinzuhören. Was geht in uns vor? Was unterdrücken wir? Was wollen wir nicht gegen Aussen zeigen? Wofür schämen wir uns und verstecken es deshalb? Diese Teile wollen auch gehört und gesehen werden, denn sie gehören zu uns.

Philippe Schmidt fasst dies folgendermassen zusammen: «Wieder in Kontakt mit sich selbst kommen. Ich kann mich nur erleben, oder das, was ich bin im aktuellen Moment. Ich kann mich nicht in der Zukunft oder Vergangenheit erleben. In die Vergangenheit kann ich mich nur zurückerinnern. In die Zukunft kann ich nur denken, aber erleben, kann ich nur das Jetzt. Aber diese Entschleunigung, ohne Ablenkung, braucht Zeit. Einen Film schauen ist einfacher. Der trägt mich ein bisschen weg, ich kann ein bisschen abschalten, aber es nährt mich nicht nachhaltig», so Schmidt.

Kurz gesagt, es lohnt sich, sich ins Leben zu begeben und sich damit zu beschäftigen.

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