Am 23. November 2020 veröffentlichte das Bundesamt für Gesundheit die neuen Statistiken über sexuell übertragbare Krankheiten in der Schweiz. Der Aufwärtstrend bei Syphilis-, Chlamydien- und Gonorrhö-Fällen, sowie der Abwärtstrend bei HIV-Infektionen setzten sich auch im Jahr 2019 fort.
Zum dritten Mal in Folge seit der HIV-Epidemie Anfang der 1980er wurden dem BAG weniger als 500 HIV-Fälle gemeldet. Das breite Testing, die frühe Behandlung und der vermehrte Einsatz der HIV-Chemoprophylaxe «PrEP» haben sich im Kampf gegen die Verbreitung des HI-Virus erneut bewährt. Dieser Erfolg zeichnet sich bei anderen sexuell übertragbaren Krankheiten leider nicht ab. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Ansteckungsrate von Chlamydien um 11%, die von Gonorrhö (Tripper) sogar um um 35%. Auch bei den Syphilis-Fällen gibt es eine erneute Zunahme. Die Statistiken des BAG zeigen also: Trotz der sinkenden HIV-Infektionen haben wir also ein zunehmendes Problem mit sexuell übertragbaren Krankheiten.
Sind wir einfach unvorsichtiger als in früheren Zeiten oder haben wir in dem Bereich Aufklärung ein Defizit? Um diese Frage zu klären, wollen wir herausfinden, wie ausführlich sexuell übertragbare Krankheiten und deren Prävention in den Schulen besprochen werden. Dies stellte sich im Laufe der Recherche jedoch als schwierig heraus.
Schwammiger Lehrplan
Angefangen bei der Vorlage des Lehrplan 21. Als verpflichtende Inhalte sind «HIV & Geschlechtskrankheiten» vorgesehen. Welche Geschlechtskrankheiten hier im Detail gemeint sind, konnte uns auch die Medienstelle des Lehrplan 21 nicht beantworten. Die Aufklärung im Bereich der anderen sexuell übertragbaren Krankheiten seien abhängig vom Wissensstand der Lehrperson und den zur Verfügung gestellten Lehrmitteln, welche von Kanton zu Kanton unterschiedlich seien.
Dass hier die Verantwortung beim Wissensstand der Lehrperson liege, hat uns stutzig gemacht. Denn um den Wissensstand aller Lehrer*innen gleichermassen abzudecken bedürfe es einer Aus- oder Weiterbildung – sonst wäre das Ganze Willkür.
Deshalb haben wir bei der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz nachgefragt. Auch dort bekamen wir keine klaren Antworten, was bezüglich Geschlechtskrankheiten im Unterricht genau behandelt wird.
«Wir werden uns bei Ihnen melden»
Warum HIV im Lehrplan spezifisch aufgeführt wird, die anderen sexuell übertragbaren Krankheiten jedoch unter einem Sammelbegriff stehen, oder ob Lehrpersonen in diesem Bereich geschult werden, konnte uns unsere Kontaktperson bei der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz nicht beantworten. Wir wurden abgewimmelt und an das Erziehungsdepartement verwiesen.
Nach mehreren Anfragen via Mail und einem Telefonat mit dem Verweis «Wir werden uns bei Ihnen melden», haben wir auch dort keine Antworten auf unsere Fragen erhalten. Anscheinend will auf der Bildungsseite niemand offen über die schulische Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten sprechen.
Wir mussten umdenken und bei der Quelle nachfragen. In einer Primarschule in Baselland haben wir Myriam Eberle getroffen. Die Primarlehrerin hat uns erzählt, dass für Aufklärungs-Halbtage an ihrer Schule externes Personal von der Aids-Hilfe vorbeikomme. Die Klasse werde im Rahmen dieser Informations-Halbtage in Mädchen- und Jungengruppen aufgeteilt. Die Lehrpersonen seien dann jedoch nicht anwesend. Frau Eberle selbst wusste daher nicht, welche Inhalte mit der Klasse besprochen werden und sie wusste auch über die besagten Geschlechtskrankheiten (Syphilis, Gonorrhö und Chlamydien) nicht Bescheid. Geschult werde das Lehrpersonal in diesem Bereich nicht, was Myriam Eberle bedauert. Sie würde es als sinnvoll erachten, hätten auch die Klassenlehrpersonen in Aufklärungsfragen eine breitere Verantwortung.
Die Wendung der Recherche
Nach einem Telefonat mit der Aids-Hilfe beider Basel (AHbB) hatten wir dann endlich Antworten zu diesen erwähnten Halbtagen. Cécile Notter, Leiterin der Bildung- und Informationsstelle der AHbB besucht regelmässig Schulklassen. Online können die Schule bzw. die Lehrpersonen, für die Primar, Sekundarstufe 1 oder 2 Unterrichtslektionen bei der AHbB buchen. An den Halbtagen in der Sekundarstufe 1 beschränken sie sich nur auf drei Krankheiten, HIV, HPV und Chlamydien, weil sie noch die Fragen der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen beantworten wollen. Frau Notter empfiehlt den Schulen mehr Zeit einzuplanen.
Sie sprechen mit den jungen Erwachsenen über Übertragungswege und wie sie sich im Falle einer Ansteckung verhalten sollten. Der Aspekt der oralen Übertragung durch Küssen werde jedoch nicht besprochen, man wolle keine unnötige Angst schüren und er spiele bei den erwähnten Krankheiten eine niedrige bis keine Rolle. Ob diese Auswahl angesichts der steigenden Infektionszahlen angemessen ist, bleibt fragwürdig.
Die Frage, ob die Bildungsinstitutionen das Problem angemessen behandeln und genügend Aufklärung betreiben, konnten wir im Laufe unserer Recherche nicht abschliessend klären. Der Lehrplan 21 diene zwar der Vereinheitlichung des schweizerischen Schulsystems, trotzdem gäbe es, auch im Bereich der Aufklärung, kantonale Unterschiede, so die Medienstelle des Lehrplans. Unsere Ergebnisse sind daher nicht repräsentativ für die ganze Schweiz.
Die Ärzte sprechen Klartext
Weniger verschwiegen als das Erziehungsdepartement und die Pädagogische Hochschule waren die Ärzt*innen mit denen wir gesprochen haben. Von ihnen wollten wir wissen, wie gut von Geschlechtskrankheiten betroffene Patient*innen über ihr Leiden Bescheid wissen und ob sie auch wissen, wie sie sich angesteckt haben. Bei den Ärzten herrscht hier Konsens.
Frau Dr. med. Sabriye Tas ist Ärztin bei Medix Toujours in Pratteln BL, einer Walk-In-Klinik. Die meisten Patienten*innen, welche sie hier behandelt, wissen über ihre Erkrankung Bescheid. «Die haben das meistens nicht zum ersten Mal. Die wissen das meistens oder sagen auch ‹Ich glaube ich habe Chlamydien›.»
In der Walk-In-Klinik gäbe es viele Patienten, die immer wieder kommen. Für Dr. Tas sind die steigenden Zahlen eher auf unvorsichtiges Verhalten zurückzuführen. Trotzdem findet sie, dass das Thema in der Schule besser behandelt werden müsse. «In Europa sind wir eigentlich aufgeklärt. Man lernt über das Thema in der Schule, aber zu ungenau. Ich denke man sollte besser aufklären, dass es im Teenager-Alter, im Gymnasium oder der Berufsschule, ein entsprechendes Fach geben sollte.»
Gefährliches Tabu
Für die Ärztin gibt es jedoch noch weitere Aspekte, die den Anstieg der Infektionszahlen begünstigen könnten. Einerseits sei es die Scham der Patient*innen über das eigene Sexualverhalten zu sprechen, andererseits die darauffolgende Fehldiagnosen der Hausärzt*innen.
«Wenn ein Mann oder eine Frau mit Beschwerden im Genitalbereich kommt, geht man oft von einem Harnwegsinfekt aus, obwohl das dann nicht der Fall ist, und behandelt dann mit den falschen Antibiotika. Deswegen denke ich, dass das nicht nur ein Problem der Bevölkerung, sondern auch der Ärzte ist, die das unterschätzen. Man muss auch als Arzt die Sexualanamnese (Vorgeschichte einer Krankheit) gut erfragen und Fragen stellen wie: ‹Haben sie sexuellen Kontakt mit einer oder mit mehreren Personen? War das ein Sexarbeiter oder Sexarbeiterin?› Die meisten sagen dann zuerst: ‹Nein nein›, geben es dann aber doch zu».
Es sei wichtig, offen über das Thema zu sprechen, wenn man sich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert. «Wir Ärzte nehmen das ganz neutral zur Kenntnis und machen darüber keine Witze. Man sollte sich dafür nicht schämen, das sind normale Krankheiten wie z.B. eine Blasenentzündung», so Dr. Tas.
Das Fazit
Unsere Recherche hat viele interessante Aspekte offengelegt und hat gezeigt, dass es für das Problem nicht eine simple Lösung gibt. Dass es nicht den einen Sündenbock für die steigenden Infektionszahlen bei Syphilis, Chlamydien und Gonorrhö gibt. Es ist vielmehr das Zusammenspiel der persönlichen Verantwortung, der schulischen Aufklärung und der Enttabuisierung des Themas, welches dazu beitragen kann, dass die Infektionszahlen in Zukunft wieder sinken.