Bei einem Selbstversuch auf Instagram wurde die [vierseitig] Redaktion selbst Zeuge davon, wie schnell Pädophile ihre Opfer auf den sozialen Netzwerken finden.
Pädophilie auf Social Media ist real – dies müssen wir in diesem Artikel nicht mehr faktisch darlegen. Die Erfahrungen und Informationen, die wir während der intensiven Recherche zu dieser Thematik gesammelt haben, waren teilweise nicht leicht zu verarbeiten. Nichts für schwache Nerven. Dass es unangenehm ist, sich stundenlang mit dem Missbrauch von Kinderfotos, Bedrohung von Minderjährigen und der fast schon aussichtslosen Lage bei der Bekämpfung davon auseinanderzusetzen, muss wohl nicht näher erläutert werden.
Recherche auf eigene Gefahr
Die Beschaffung dieser sensiblen Informationen und die Recherche dazu gestaltete sich nicht ganz unproblematisch: Bevor wir in das Thema eintauchen durften, kriegten wir von unseren Dozenten den Auftrag, ein Dokument zu unterzeichnen. Dieses besagt, dass wir uns nur aus Recherchezwecken mit dieser Thematik beschäftigen und nicht, um uns persönlich daran zu bereichern.
Ein durchaus komisches Gefühl, wenn man als 22-Jähriger ein solches Dokument mit der eigenen Unterschrift versieht. Spätestens ab diesem Zeitpunkt merkte ich: Hey, das ist schon nicht so easy, wie ich es mir vorgestellt habe. Nicht, dass ich jemals gedacht hätte, dieses Thema würde leichte Kost sein, allerdings habe ich noch nie auf einem Gebiet recherchiert, welches mich selbst in eine brenzlige Situation bringen könnte. Obwohl all diese Gedanken ein unwohles Gefühl hervorbrachten, unterzeichneten wir natürlich das besagte Dokument; schliesslich wollten von uns auch niemand, dass plötzlich die Polizei zu Hause aufkreuzt.
Wo Katzenvideos und Pädophilenringe parallel zueinander existieren
Es war nicht selten der Fall, dass wir bei unseren Streifzügen durch die sozialen Medien von Wut, Entrüstung und Ekel gepackt wurden.
Instagram Accounts mit mehreren tausend Abonnenten und einer Sammlung von Bildern, die allesamt unschuldige Kinder beim Spielen oder in den Badeferien zeigten. Die meisten dieser Bilder könnten genauso gut aus einem Familienalbum stammen. Die Kommentare darunter: Allesamt sexueller Natur.
Wütend auf die sozialen Plattformen, weil scheinbar nicht wirklich viel unternommen wird. Ekelgefühle, aufgrund der abscheulichen Absichten von den Abonnenten und Entrüstung darüber, dass dies scheinbar ganz parallel und unbemerkt zur sonstigen Meme-Kultur und den hübschen Fotos auf Instagram passiert.
Ein Teufelskreis, der gebrochen werden muss
Nach längerer Observierung einzelner Accounts merkten wir schnell, dass auch wenn diese Accounts immer wieder gemeldet und dann auch von der Plattform genommen wurden, es nicht lange ging, bis sich die Community auf einem neuen Profil eingenistet hat. Beispiele wie dieses zeigen einen Teufelskreis auf, bei dem keine Lösung in Sicht scheint. Aus dieser Erkenntnis entwickelten sich weitaus mehr Fragen, als dass es für uns auffindbare Antworten gab.
Unser Rechercheteam setzte sich als Ziel, herauszufinden, wie es zum Kontakt zwischen Minderjährigen und Pädophilen kommen kann. Wie es sich anfühlt, wenn man solche Nachrichten im Postfach liest. Was dann gemacht werden soll, und an wen man sich wenden kann. Wir wollten ein Selbstexperiment durchführen.
Kein unbedenklicher Versuch
Natürlich, und dies wollen wir hier ganz klar festhalten, können auch wir als volljährige Personen uns nicht in die Lage eines betroffenen Kindes hineinversetzen. Das war aber auch nie das Ziel des Experiments. Zudem wollen wir jeder Person, auch aus rechtlichen Gründen, davon abraten, so ein Selbstexperiment durchzuführen. Dies wurde uns im Nachhinein auch von Staatsanwältin Dr. iur. Sandra Muggli, spezialisiert auf Cybercrime, ans Herz gelegt:
«Von Selbstexperimenten ist grundsätzlich abzuraten, wenn das Ziel eine Anzeige sein soll, da das Gesetz strenge Regeln an verdeckte Fahndungen stellt und Private diese zumeist nicht kennen, was regelmässig Probleme bei der Beweisverwertbarkeit nach sich zieht. Ausserdem ist im Gesetz klar festgehalten, dass als Fahnder keine Privatpersonen, sondern nur Mitglieder eines Polizeikorps zugelassen sind.[….]»
Ziel unseres Experimentes war es, herauszufinden, wie schnell Pädophile auf Social Media Accounts von Kindern aufmerksam werden.
michi2010_xd registriert sich bei Instagram
Natürlich wollten wir beim Erstellen des Accounts keine Bilder von Minderjährigen für experimentelle Zwecke nutzen. Daher haben wir mein 22-jähriges «Ich» mit verschiedenen Bildbearbeitungsprogrammen und Filtern so verändert, dass ich auf den Bildern wieder wie ein 10-jähriger Junge aussah. Klingt zwar ganz lustig, war es aber nicht. Der Gedanke daran, dass sich ältere Personen möglicherweise ab meinem falschen 10-jährigen «Ich» aufgeilen würden, war alles andere als angenehm. Trotzdem wurde am 08. September 2020 michi2010_xd auf Instagram ins virtuelle Leben gerufen.
Bei der Altersangabe, bei der von Instagram gefragt wird, ob wir denn schon 13 Jahre alt wären, haben wir gelogen. Um die Altersgrenze zu umgehen, kann ein falsches Geburtstagsdatum angegeben werden, da dies von Instagram nicht nachgeprüft wird. Mittlerweile können zumindest Accounts von anderen Nutzern gemeldet werden, wenn diese die Befürchtung haben, dass der/die Nutzer*in jünger als 13 Jahre alt ist.
Einige Klicks später hatten wir schon eine Account-Beschreibung erstellt und folgten verschiedenen angesagten Youtuber*innen und Influencer*innen.
Dabei haben wir darauf geachtet, explizit keinen Accounts mit problematischen Inhalten zu folgen. Die Account-Beschreibung haben wir unschuldig und neutral formuliert, dabei aber klar deklariert, dass es sich um einen 10-jährigen Jungen handelt. Den Account haben wir privat gestellt, so wie es oft von Eltern erwartet wird.
Danach, so dachte ich, würde wohl für einige Tage Funkstille herrschen. Nie hätte ich mit dem gerechnet, was gleich danach passieren würde.
«Ist dein Pip up?»
Knappe 15 Minuten vergingen, bis die erste Nachricht von einem 31-jährigen Mann eingetroffen ist.
Durch das Abonnieren der Youtuber*innen wurden wir von diversen Bots kontaktiert, bei denen wir aber nicht alleine im Verteiler waren. Bei drei von diesen Anfragen haben wir ein Emoji zurückgeschickt – schliesslich würde dies ein zehnjähriger Knabe vielleicht aus Neugier genauso machen. Durch diese Interaktion wurden wir dann aber mit Follow-Anfragen überhäuft: Nach fünf Minuten waren es bereits 19 Accounts, die unserem Experiment-Account folgen wollten.
Einige haben wir dann auch angenommen, darunter auch besagter Mann, der uns direkt danach angeschrieben hat.
Eine Erfahrung, die man nicht mehr vergisst
Wir sind uns bewusst, dass eine gewisse Provokation darin bestand, dass wir stetig auf die Nachrichten des Mannes eingegangen sind. Wir haben aber ganz bewusst so interagiert, während Kinder die Gefahr vielleicht nicht gleich erkennen. Die gesamte Konversation dauerte insgesamt nur ungefähr 20 Minuten. All dies passierte innerhalb einer Stunde nach Eröffnung des Profils.
Eine intensive und zugegebenermassen auch verstörende Stunde, die mir bis jetzt noch sehr präsent ist.
Dieses unwohle Gefühl in der Magenregion und eine innere Nervosität, obwohl ich es ganz bewusst darauf hab ankommen lassen und sogar mit dieser Situation gerechnet habe – mir sogar solch eine Begegnung für ein geglücktes Experiment erhoffte. All die Vorbereitung, Intuition und intensive Auseinandersetzung nahm mir aber trotzdem nicht dieses mulmige Gefühl.
Direkte Konfrontation
Ja, ich erinnere mich noch genau, wie ich an der Bushaltestelle sass, während das Bild des erregten Gliedes meinen gesamten Bildschirm ausfüllte. Obwohl ich davon ausging, dass mich so eine Nachricht nicht wirklich schocken könnte, war ich im ersten Moment perplex – und wütend. Die Vorstellung, dass dieses Bild mit voller Intuition an einen 10-jährigen Buben verschickt worden war, erschütterte mich. Und dies, als 22-jähriger Mann, der jetzt auch nicht mehr Grün hinter den Ohren ist. Dickpics und Nudes schocken mich nicht. Nein, es war die böse Absicht dahinter, mit der ich nun direkt konfrontiert wurde, und die mich zutiefst anwiderte.
Bei der Frage, was ich jetzt tun sollte, war mir aber sofort klar: Die Polizei muss verständigt werden. Ob ich dies auch als 10-jähriger Junge gewusst hätte, bezweifle ich.
Da ich mich mit vollem Bewusstsein in dieses Experiment stürzte, hatte ich auch nicht die Schamgefühle, die ich mit zehn Jahren garantiert gehabt hätte. Die Hemmschwelle, jemandem von diesem Erlebnis zu erzählen, wäre bei mir persönlich im Alter von zehn Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gross gewesen.
Lückenlose Beweiskette – sonst passiert nichts
Noch am gleichen Tag wurde mir von der Polizei am Telefon geraten, den Fall über ein schriftliches Formular zu schildern, damit auch alles dokumentiert werden könne. Nach dem Gespräch mit der Polizei meldeten wir auch den Account bei Instagram. Danach geschah zunächst einmal nicht viel.
Nach einigen Tagen meldete sich dann die zuständige Stelle der Polizei, allerdings mit ernüchterndem Inhalt:
«Eine Anzeige bringt vermutlich auch nicht das gewünschte Resultat. Die Beweiskette muss lückenlos sein und auch sonst sind die Anforderungen anspruchsvoll, damit ein Strafverfahren erfolgreich ist. Wenden Sie sich bitte an die Polizei an Ihrem Wohnort, wenn Sie eine Anzeige machen möchten.»
Dieser Rat der Polizei machte mich ziemlich stutzig, da ich eigentlich damit gerechnet hatte, dass die Polizei mehr unternehmen würde. Selbst nach mehreren Mails bekam ich nicht die Informationen, die ich mir ursprünglich erhofft habe. Nach und nach ergab sich aber, wieso bei speziell diesem Fall nicht viel unternommen wurde: Es ist kein Kind betroffen. Durch unser Selbstexperiment wurde keine minderjährige Person verletzt oder belästigt. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass der Täter solche Bilder und Nachrichten an weitaus mehr Kinder verschickt hat.
Aktiver Wiederholungstäter
Nach der Erstellung des Accounts legten wir auch gleich noch ein zweites Profil auf Instagram an. Dabei lag der Fokus aber nicht auf der Echtheit des Profils. Viel mehr wollten wir einen «Freund» von Lockvogel Michi erstellen, damit dieser realer wirkte. Obwohl bei diesem «Freund» nur eine gelbe Farbfläche als Profilbild benutzt, und auch sonst keine Fotos gepostet wurden, hielten wir auch da in der Beschreibung fest, dass dieser erst zehn Jahre alt sei. Prompt fragte der Täter auch diesen Account an. Auch von unserem Zweitaccount haben wir den Täter gemeldet.
Mittlerweile, sieben Wochen nach dem Experiment, ist das Profil des Täters nicht mehr auffindbar.
Eine Herausforderung, die endlich angegangen werden muss
Da unser erster Austausch mit der Polizei keine Früchte getragen hat und wir auch mit der Antwort nicht ganz zufrieden waren, hakten wir erneut nach. Diesmal gingen wir genauso vor, wie es uns die Behörde in unserem ersten Mailverkehr geraten hat: Wir meldeten uns bei der Kantonspolizei. Nach mehreren Telefonaten und Mails wurden wir endlich an eine Stelle verwiesen, die uns ausführlich Antwort gab:
«Am Beispiel Ihrer Recherchen zeigt sich, wie aktiv Pädophile und sonstige dubiose Typen auf sozialen Medien sind. Die Tatsache, dass die virtuelle Welt keine Grenzen kennt, erschwert polizeiliche Ermittlungen enorm und bietet Kriminellen Schutz vor Strafverfolgung. Cybercrime hat in den letzten Jahren stark an Brisanz gewonnen, weshalb wir unseren strategischen Fokus verstärkt auf diese Kriminalitätsformen ausrichten wollen. Noch sind die Ressourcen allerdings recht bescheiden, was beispielsweise verunmöglicht, ein systematisches Monitoring nach verbotenen Web-Inhalten zu betreiben. Geeignete Spezialisten rekrutieren zu können, ist zudem eine Herausforderung für alle Polizeikorps.»
Wohnort unbekannt
Was beim Betrachten des Chatverlaufs zwischen unserem Lockvogel und des Täters auffällt, ist, dass dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit weder in der Schweiz noch in Deutschland wohnhaft ist. Wenn sich das Opfer und der Täter nicht im gleichen Land und unter dem gleichen Gesetz befinden, gilt somit je nach Situation der Wohnort des Täters als Tatort. Ist die Täterschaft aber wie in diesem Fall unbekannt, kann auch der Wohnort von Opfern als solcher gelten. Wie auch bei anderen Kriminalitätsformen müssen die beteiligten Staatsanwaltschaften den Gerichtsstand klären und festlegen. Zur Anwendung kommt jeweils das Strafrecht des jeweiligen Landes. Darin ist auch begründet, weshalb eine Handlung juristisch unterschiedlich ausgelegt werden kann, ja möglicherweise gar nicht in jedem Land auf gleiche Weise strafbar ist.
Wenn sich aber nun ganz konkret verdächtige Inhalte oder Personen im Netz finden lassen, können solche Erkenntnisse dem Bundesamt für Polizei (fedpol) gemeldet werden. Dieses geht den Hinweisen nach und löst nötigenfalls Ermittlungen aus, welche dann durch das zuständige kantonale Polizeikorps geführt werden.
Bestandteil einer zeitgerechten Aufklärung
Abschliessend kann ich (auch im Namen meiner Kolleg*innen) sagen, dass obwohl dieses Experiment leichtsinnig war, es auf erschreckende Weise gezeigt hat, dass solche Fälle keine Seltenheit sind. Diesen Weckruf haben meine Kolleg*innen und ich vielleicht sogar gebraucht, um die Dringlichkeit dieser Problematik noch einmal mehr vor Augen geführt zu bekommen. Es ist wirklich nötig, dass mehr über diese Thematik gesprochen wird. Eltern und Pädagogen sollen sich dieser Problematik bewusst werden und eine neue Form der Aufklärung anstreben. Kinder müssen geschützt werden. Dies haben wir durch dieses Experiment am eigenen Leib erfahren.
Links für Kinder und Eltern:
Jugend und Medien
Pro Juventute
Wir Eltern
Opferhilfe Schweiz
Tipps und Meldeformular der Stadt Zürich
Swisscom: Das erste Handy für mein Kind
“Medienkompetenz – Tipps zum sicheren Umgang mit digitalen Medien” von Jugend und Medien in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften