Wenn der Alltag zu viel wird

  • 19. Oktober 2020
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Joel steht nach dem Gespräch lachend vor einem Baum.
Joel reflektiert die letzten Jahre seines Lebens. (Foto: Oliver Julier)

Am Tag vorher die Tasche für die Schule bereitstellen. Die Auftragsnummer bei der Arbeit im System Zeichen für Zeichen nachkontrollieren. Aufschreiben, wie oft man am Tag auf die Toilette muss. Die Buchstaben zählen, die den Mund des Gesprächspartners verlassen.

Einige Wochen nachdem Joel seine kaufmännische Lehrstelle antrat, wusste er, dass ihn etwas in seinem Alltag stört. Die Arbeitswelt ist damals, wie bei vielen Jugendlichen, neu für den 15-Jährigen. Er möchte den Menschen um sich herum gefallen und in der Schule, wie auch im Lehrbetrieb abliefern. Fehler machen möchte er nicht. Auch wenn ihn die Materie im Lehrbetrieb überhaupt nicht interessiert, oder wortwörtlich gesagt «scheissegal» ist, ist es ihm wichtig, dass seine Vorgesetzten zufrieden sind mit ihm. Dies generiert Druck – grossen Druck.

Er versteht nicht sehr viel vom Business seines Arbeitgebers, darum möchte er die einfachen Aufgaben unbedingt ohne Fehler bewältigen. Im System tippt er eine Auftragsnummer ein. Er denkt sich, dass jeder eine Auftragsnummer eingeben kann. Er kontrolliert sie noch einmal und dann noch ein zweites Mal. Dann überprüft er sie Ziffer für Ziffer. Mittlerweile hat er schon viel zu viel Zeit in diesen Auftrag investiert, darum darf sie auf jeden Fall nicht falsch sein. Zum Abschluss schaut er noch einmal drüber. Dass er für diese vermeintlich einfache Aufgabe viel Zeit opfert, fällt niemandem im Betrieb auf. Vielleicht ist es ihnen auch egal, denn ihm wird die Zeit zur Verfügung gestellt. Stressige Tage hat er selten.

Jeden Abend verbringt er beinahe Stunden mit dem Packen seines Rucksacks. Während der Arbeit kontrolliert er mehrmals am Tag, ob er nach den Pausen und bei Feierabend richtig ein- und ausgestempelt hat. Für Letzteres fährt er an einem Abend sogar nochmals zurück ins Geschäft. Nur um sicherzugehen. Im Betrieb stört es keinen. Seine Vorgesetzten sind zufrieden mit ihm und in der Schule erzielt er die gewünschten Resultate. Die Anerkennung der Menschen in seinem Berufsleben tut ihm gut.

Aus Charakter wird Zwang

Fussball hat keinen Platz mehr in seinem Leben. Nach etwa zehn Jahren im Club entscheidet er sich, damit aufzuhören. Er braucht die Zeit für Wichtigeres, zum Beispiel die Schule. Die Noten stimmen, doch beim Lernen geht es lange. Er verheddert sich bei unwichtigen Themen des Stoffs und schweift oft ab. Obwohl er aus zeitlichen Gründen die Fussballschuhe an den Nagel gehängt hat, wird ihm in dieser Zeit sein körperliches Aussehen wichtig. Für sich selber, vor allem aber, weil er gefallen möchte. Er macht sich an die Hanteln und beginnt mit Krafttraining. Er will jemand sein, der er nicht ist. In den kommenden Wochen und Monaten versinkt er immer mehr in seinen Gedanken. Es beginnt ihm Angst zu machen.

Im Gespräch ist er oft noch mit dem beschäftigt, was schon vor fünf Minuten gesagt wurde – und es wird schlimmer: Er beginnt zu zählen. Wörter und Buchstaben, die jemand spricht. Für ihn ist das eine Art Kontrolle, die er ungefähr neun Monate braucht. Doch es wird zu viel. Er braucht Hilfe und seine Eltern merken das. Zu oft ist er abgelenkt und angespannt. Sie einigen sich auf einen Besuch beim Psychiater. Das ist nun fünf Jahre her. Seit fünf Jahren weiss Joel, dass er eine Zwangsstörung hat.

Joel sitzt nach dem Gespräch mit der Sonne im Gesicht auf der Terrasse.
Joel ist mittlerweile 22 Jahre alt. Seit fünf Jahren weiss er, dass er eine Zwangsstörung hat. (Foto: Oliver Julier)

«Fuck!»

Es war ein Schock, als sein Vater das erste Mal das Wort «Psychiater» ausgesprochen hat. Noch nie hatte er sich mit dem Thema «psychische Krankheiten» auseinandergesetzt und nun sagt ihm diese Person, dass er an einer Zwangsstörung leidet. Das Gespräch mit dem Psychiater ist eine einmalige Sache und nicht mit weiterführender Therapie verbunden. Der Psychiater empfiehlt ihm ein Antidepressivum – er lehnt es ab. Zu diesem Zeitpunkt ist sich Joel nicht mehr sicher, ob er die Lehre noch beenden möchte oder kann. Er tut es trotzdem. Ein Dreivierteljahr später schliesst er seine Lehre ab. Der eine Lebensabschnitt abgeschlossen und schon beginnt ein neuer: Berufsmatura. Mit dem neuen Abschnitt kommt auch neuer Stress.

Während der Berufsmatura geht Joel monatlich zu einer Psychologin. Es belastet ihn, dass er dafür oft Ausreden suchen muss. Seine Freunde wissen davon nichts. Zudem verbraucht er auch in dieser Phase viel Zeit mit langen Gedankengängen. Jeden Abend geht er seinen Tag durch und überlegt sich, wann er was getrunken oder gegessen hat, wann er von zu Hause für den Bus loslaufen musste oder wie viel Geld er für was ausgegeben hatte. Zuerst immer im Kopf, später auf Rat der Psychologin, schreibt er es auf. Jeden Abend, drei Monate lang. Er braucht mehr Zeit für die Dokumentation seiner Lernfortschritte als für das Lernen selber. Da die Wochen während der Berufsmatura objektiv betrachtet nicht allzu vollgepackt sind, reicht es auch in diesem Jahr.

Das Kartenhaus aufrechterhalten

Monate verstreichen. 18 Wochen Militär. Sinnloses Warten, Kampfrucksack packen, sinnloses Stressen, magazinweise Munition verballern und wieder sinnloses Warten. Die Zwangsstörung begleitet ihn. Sie begleitet ihn im anschliessenden Sprachaufenthalt in Australien und im Vorkurs zum PH Studium. Je mehr Zeit vergeht, desto belastender wird die Tatsache, dass er nur mit seiner Familie offen darüber sprechen kann. Der Gedanke, mit Freunden darüber zu reden, geht ihm vermehrt durch den Kopf. Noch versucht er, das Kartenhaus aufrechtzuerhalten. Immer wieder denkt er sich, die Sache gehe vielleicht irgendwann mal vorbei. Dieses Bild gegen aussen zu wahren, wird für ihn mit der Zeit genauso anstrengend, wie das eigentliche Problem.

Ein Jahr Vorkurs später, Ende Sommer 2019, spürt er schon, was wenig später passieren würde. Nach drei Monaten im Studium muss er abbrechen. Die konstante Bewertung und wiederholenden Praktika sind zu viel – das Kartenhaus bricht zusammen. Er fällt ins Nichts. Keine Aussichten beruflich oder im Studium. Keine Aussichten im Leben. Mehrere Wochen geprägt von absoluter Lustlosigkeit, geprägt von einer Depression.

Fünf vor zwölf

Nach und nach informiert er seine engsten Freunde. Die Reaktionen sind wohlwollend – durchgehend. Trotzdem ist es anstrengend. In diesen Wochen macht er nichts. Die Depression raubt ihm jegliche Motivation. Seine Familie unterstützt und hilft ihm. Sie entscheiden sich gemeinsam für eine Klinik im Langenthal, in welcher er für sieben Wochen bleibt. Zu Hause ist er in diesen Wochen nur selten. Der Richtungswechsel in seinem Leben wirkt, auch wenn erst nach einigen Wochen. Gegen Ende fühlt er sich gut, umgeben von Menschen, denen es ähnlich ergangen ist wie ihm. Seine Art mit Menschen umzugehen, wird dort sehr geschätzt. Das ermutigt ihn. In den vielen Gesprächen begegnet er auch den Schicksalen anderer Personen. Ihm wird bewusst, dass nichts in seinem Leben selbstverständlich ist. Seine Familie und Freunde, die ihn unterstützen, die vielen Möglichkeiten in der Ausbildung oder seine physische Gesundheit. Er findet Freude an den einfachen Dingen: Spazieren im Wald, Spiele spielen und Lesen. 

Vor der Zeit in der Klinik war es «fünf vor zwölf». Wir sitzen gemeinsam auf der Terrasse bei ihm zu Hause und Joel erzählt mir seine Geschichte. Wir kennen uns, seit wir zusammen bei den Junioren im Fussballclub gespielt haben. Seit fast einem Jahr weiss ich, dass er eine Zwangsstörung hat. Mittlerweile hat Joel seinen Weg wiedergefunden. Seinen mehrmonatigen Einsatz im Zivildienst hat dem 22-Jährigen Einblick in ein neues, interessantes Berufsgebiet gegeben, das er mit einem neuen Studium weiterverfolgen möchte. Offen und reflektiert spricht er über seine Zwangsstörung und die Probleme, die sie mit sich gebracht hat. Der 15-jährige Jugendliche, der nichts von psychischen Krankheiten wusste, ist er schon lange nicht mehr. Er weiss nun, was es heisst, mit dem umgehen zu müssen und wie wichtig der Austausch mit anderen Menschen ist. Egal, ob diese selber betroffen sind oder nicht. Man ist deswegen nicht abnormal oder ein «Psycho» – man ist ein Mensch. Es braucht kein Kartenhaus.

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